22 Nov

Rezension Literaturfestival globale 2017

Lest Gedichte!

Rezen­sion von Celi­na Imm

Gedichte zu rezen­sieren ist eine schwierige Angele­gen­heit. Sie sind unter den lit­er­arischen Wesen, diejeni­gen, die einem auf drastis­chste Weise alles oder nichts sagen, und manch­mal bekommt man ein Alles, wo man lieber ein Nichts gebraucht hätte oder man ste­ht vor einem Nichts, das einem alles ver­schließt. Es ist also ein schmaler Grat: Wenn das Ver­hält­nis von Alles und Nichts nicht stimmt, dann kann man über Lyrik vielle­icht alles schreiben, aber nichts wird dem Gedicht gerecht. Kinder der ver­lore­nen Gesellschaft ist bere­its der dritte Lyrik­band der Dich­terin, die in Offen­bach am Main als Kind tscherkessis­ch­er Eltern geboren wurde. Mit der türkischen Sprache großge­wor­den, kam das Deutsche erst in der Grund­schule dazu und vielle­icht ist es dieser Umstand, der es Safiye Can erlaubt auf so exper­i­mentelle und spielerische Art die Möglichkeit­en der Sprache auszu­loten. In Cans Gedicht­samm­lung sind Wörter nicht ein­fach Wörter: Sie for­men die Gedichte zu konkreter Poe­sie, sie sind Zeitungss­chnipsel, die neu zusam­menge­set­zt wer­den und wörtlich genommene Sprich­wörter. Safiye Can bringt den Leser ins Stolpern, ihre Wörter wider­set­zen sich einem zu sicheren und zu schnellen Ver­ste­hen und vor allem dem Schick­sal leere Worthülsen zu sein. Man hat den Ein­druck, ihre Poe­sie nimmt die Wörter in Pflege, um ihnen wieder mehr Gehalt zu verleihen.

Ihre Gedichte kreisen um Fra­gen, sie gehören nicht in den Bere­ich klar­er Antworten und schon gar nicht in die Sphäre wo „pünk­tliche Termine/ frische Säfte/ Kon­feren­zräume“ herrschen und in der es „Bana­nen­box­en […] Brief­beschw­er­er, Her­ren­di­ener und Kräuter­streusel am Teller­rand“ gibt. Vielmehr sprechen sie – wie der Titel bere­its ankündigt – vom Ver­loren­sein und dem Suchen nach seinem Platz, ohne Garantie, dass dieser über­haupt existiert. Wo darf man hin? Wie muss man rein­passen? Ist Heimat „ein rüs­seliges Ding mit Zimt oben­drauf“ oder „eine todern­ste Sache/ mit Schnauzbart“? Und welchen Raum lässt eine prof­i­to­ri­en­tierte Gesellschaft für „damit-ver­di­enst-du-keinen-Cent-Gedichte“? Dabei oszil­lieren ihre Verse zwis­chen mutig-zarter Intim­ität, wenn sie über Liebe schreibt, und Revolte gegen den Zus­tand der Welt, in der Men­schen wegen Ras­sis­mus ster­ben („Wann immer ich Solin­gen höre/brennt ein Haus vor meinen Augen“). Dieses Zusam­men­prallen von Liebesgedicht und poli­tis­chem Gedicht irri­tiert, man möchte das eigentlich gerne in Rein­form haben: die pure Liebe oder die klare Anklage. Aber so ist das eben nicht. Bei­des existiert auf ger­adezu unangemessene Art nebeneinan­der: „Jede Liebe sitzt im Riesenrad/so als säße sie das erste Mal dort / als gäbe es kein Vorher/ […] keine Panz­er­wa­gen, kein Ver­hungern / als gäbe es kein Erfrieren, keinen Henker.“

Es ist möglicher­weise das Tal­ent der­jeni­gen, die sich ver­loren fühlen in der Gesellschaft, dieses groteske Nebeneinan­der sehen zu kön­nen. Ger­ade die, die ihren Platz nicht find­en kön­nen, kön­nen von der Merk­würdigkeit der Welt bericht­en und im besten Fall eine Re-sen­si­bil­isierung dafür anstoßen, dass der Sta­tus quo eben nicht nor­mal ist. Tat­säch­lich stellt man sich nach der Lek­türe die Frage, ob der wirk­lich ver­lorene Teil der Gesellschaft nicht der ist, der sich selb­st nicht ver­loren glaubt, der mit allzu großer Sicher­heit weiß, was Inte­gra­tion und Heimat zu bedeuten haben und wer dazu gehören darf. Und ob es nicht allen sehr gut tun würde, diesen Men­schen Safiye Cans Gedicht­band an den Kopf zu wer­fen, zusam­men mit ihrer Auf­forderung: Lest Gedichte!

Kinder der ver­lore­nen Gesellschaft, Safiye Can, 2017, Wall­stein Ver­lag, 90 Seit­en, 18 Euro.
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