17 Jun

Rezension Trouvailles littéraires 2020

Safiye Can: Rose und Nachtigall

Wer Gedichte liebt — aber auch wer sich mit Gegen­wart­slyrik eher schw­er tut, dem sei die intu­itiv zugängliche und zugle­ich so inten­siv nach­wirk­ende Poe­sie von Safiye Can wärm­stens an Herz gelegt!

Die Lyrik­erin und Über­set­zerin, die 2014 mit ihrem nun neu aufgelegten Gedicht­band Rose und Nachti­gall debütierte, ver­webt in ihren Gedicht­en türkisch-ori­en­tal­is­che Stoffe mit urba­nen und all­t­agskul­turellen Motiv­en, die sich immer wieder auf eine uni­verselle Ebene hin öff­nen und ver­tiefen — immer­hin studierte die Autorin auch Philosophie.

Da die Form für die Lyrik und beson­ders für Cans teil­weise konkrete Poe­sie eine wichtige Rolle spielt, darf man dur­chaus erwäh­nen, wie ästhetisch anziehend die Neuau­flage im Wall­stein Ver­lag gestal­tet ist: eine stil­isierte weiße Nachti­gall auf durch­drin­gen­dem Rot, Farbe der Rose, Sym­bol der Liebe und der Innigkeit, in der die Gedichte geschrieben sind und mit der sie ihre eben­so durch­drin­gende Wirkung auf den Leser ent­fal­ten. Die Lek­türe der Gedichte find­et auf ver­schiede­nen Ebe­nen der Wahrnehmung statt: auf ein­er intellek­tuellen, ein­er emo­tionalen und eben auch ein­er visuellen Ebene. Beson­ders im ersten Teil „Kein Syn­onym für die Liebe“, befind­en sich einige Beispiele für die sinnliche Kraft konkreter Poe­sie, wie etwa das von einem blitzar­ti­gen Riss im Schrift­bild visuell zerk­lüftete Gedicht über den Schmerz des Ver­lasse­nen, der Fotos ver­bren­nt, und seinen Fre­und, der in ein­er über­raschen­den Wen­dung in den let­zten Zeilen über den noch größeren Schmerz klagt, nie solchen Schmerz emp­fun­den zu haben.

Manche der Gedichte sind sehr kurz und verdichtet, und eigentlich sind auch die Kapitelüber­schriften selb­st schon poet­is­che Einzeil­er: „Weniger ist Nichts“, „Inkog­ni­to Minkog­ni­to“. Und alle kreisen sie um die auf die ori­en­tal­is­che Dich­tung ver­weisenden Titel-Motive der Rose und der Nachti­gall, mit der Can eine an Vari­a­tio­nen reiche Tra­di­tion der Liebeslyrik fort­set­zt, die von der mys­tis­chen Liebe zu Gott bis zur sinnlichen Sehn­sucht nach dem Geliebten reicht und die sie auf eine ganz per­sön­liche Weise in der von ihr erlebten Gegen­wart weiterspinnt.

So sind ihre Gedichte mit vie­len Assozi­a­tio­nen und Anspielun­gen in der Gegen­wart ver­ankert, mit der urba­nen Kul­tur und der Erfahrungswelt junger Men­schen, in der sich Verzwei­flung, Liebeskum­mer, Pop­musik und Daseins­fra­gen vielschichtig über­lagern. Mal sind die Texte mod­ern, hip und flap­sig, im näch­sten Moment schon wieder tief metapho­risch und hoch­po­et­isch verk­nappt. Auf diese Weise entste­ht ein faszinieren­des Ineinan­der von alltäglich­er Erfahrung und tiefem, exis­ten­ziellem Gefühl.

Am lieb­sten mochte ich die Gedichte des let­zten, wiederum „Rose und Nachti­gall“ betitel­ten Kapi­tels, da hier die poet­isch verdichtete und gle­ichzeit­ig von ein­er sinnlichen Leichtigkeit geprägte Sprache der Autorin mein­er Empfind­ung nach ihren Höhep­unkt erre­icht. Meta­phern der Sehn­sucht set­zen sich über die einzel­nen Texte hin­weg fort, mit feinen, aber bedeut­samen Verän­derun­gen, so dass ein los­es Langgedicht entste­ht, das eine unheim­liche poet­is­che Kraft ent­fal­tet, der man sich nicht entziehen mag!

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
lese ich verblasste Träume auf
und pflanze sie in Blumentöpfe. (…)

An manchen Tagen
mag man sich in den eigenen
Schat­ten hineinlegen
sehnt sich nach der Furche
ein­er frem­den Handfläche. (…)

Unter­wegs lese ich ver­lorene Träume auf
stricke sie zum Stro­phen-Schal zusammen
damit er wärmt, irgendwen da draußen
wärmt, den, der friert,
wer nie gefroren hat, weiß nicht
um die, die Kälte erleben. (…)

Unter­wegs lese ich durch­nässte Träume auf
und hänge sie an die Wäscheleine
in meinem Herzen das Herz ein­er Nachtigall
weiß nicht, wohin die Lebensleit­er anlegen
wohin mit Hän­den und Füßen
an welch­es Postfach
die Ent­täuschung adressieren. (…)

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
ver­wan­delt sich zu Stein
was ich berühre
aus einem Stein wird keine Rose.

Safiye Can, Rose und Nachtigall

Safiye Can: Rose und Nachti­gall, Wall­stein (2020)
ISBN: 9783835336094