Nâzım Hikmet/ Gedicht
Nâzım Hikmet
15. Januar 1902, Thessaloniki — 3. Juni 1963, Moskau
Der blauäugige Riese, die winzigkleine Frau und die Geißblätter
Er war ein Riese mit blauen Augen,
liebte eine winzigkleine Frau.
Der Traum der Frau war ein winzigkleines Haus
in dessen Garten
mehrfarbige Geißblattblüten
wuchsen.
Wie ein Riese liebte der Riese.
Und seine Hände waren geschaffen
für dermaßen große Dinge, daß er nicht
den Bau hätte bauen können,
an der Tür hätte läuten können
vom Haus in dessen Garten
mehrfarbige Geißblattblüten
wuchsen.
Er war ein Riese mit blauen Augen,
liebte eine winzigkleine Frau.
Winzig winzigklein war die Frau.
Die Frau dürstete nach Bequemlichkeit,
ermüdete auf dem großen Weg des Riesen.
Und Leb‘ wohl sagend dem blauäugigen Riesen,
ging sie eingehakt bei einem reichen Zwerg
in das Haus mit dem Garten
in dem mehrfarbige Geißblattblüten
wuchsen.
Jetzt versteht der blauäugige Riese,
für riesige Lieben
kann es nicht einmal zum Grab werden:
das Haus mit dem Garten
in dem mehrfarbige Geißblattblüten
wachsen…
Gedicht: Nâzım Hikmet Ran
Übersetzung: © Safiye Can, 2007
Nâzim Hikmet Ran, geb. 1902 in Saloniki, gest. 1963 in Moskau, war ein türkischer Dichter und Dramatiker. Er zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Weltliteratur. Nâzim Hikmet wuchs in der kosmopolitischen Atmosphäre Istanbuls auf. Zeitlebens blieb der politisch engagierte Dichter in seiner Heimat verfolgt. Trotz Verfolgung, Publikationsverbot und Exil schaffte er es, die türkische Literatur nachhaltig zu prägen. Dazu gehört, dass er die osmanische Versform überwunden hatte und vielfältige Einflüsse der Moderne aufnahm. Sechzehn Jahre verbrachte er im Gefängnis, zwölf Jahre lebte er im Exil. In der DDR erschien bereits 1959 ein erster Gedichtband Hikmets in deutscher Übersetzung. Sein Publikationsverbot in der Türkei hingegen wurde erst 1965 aufgehoben.
Musikalische Lesung, Wiesbaden/Biebrich
Dezember 2012