Offenbach Post 2022
Offenbach Post
„Auch Rassismus ist eine Pandemie“
Offenbacher Lyrikerin Safiye Can verarbeitet Hanauer Anschlag in einem Hörspiel
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Offenbach/Hanau – 19. Februar 2020: Der Tag, an dem der rechte Hass in Hanau wütet. Auch im Leben der Freunde Sophia und Friedrich verändert die Tat alles. Um die beiden jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund dreht sich das Hörspiel „Das Halbhalbe und das Ganzganze“, das zum zweiten Jahrestag des Hanauer Anschlags im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wird. Im Gespräch erzählt die Offenbacher Autorin und Lyrikerin Safiye Can, was ihr erstes Hörspiel über Rassismus verrät und welche Wunden das Attentat hinterlassen hat.
Die Charaktere Ihrer Erzählung heißen Sophia und Friedrich – das klingt erst mal nicht nach Migrationshintergrund. Möchten Sie Ihr Publikum damit irritieren?
Es sind Spitznamen, die sich die beiden gegenseitig gegeben haben. Sie sind beste Freunde und lernten sich kennen, als sie über Nietzsches Werke korrespondierten, deshalb der Name Friedrich. Es könnten aber auch ganz andere Namen sein; sie sind nur Platzhalter für Menschen, die uns sympathisch sind, die uns nicht fremd sind. Die Erzählung wird getragen von einer Leichtigkeit, von Witz und Ironie. Das Publikum soll lächeln, lachen, schmunzeln. Im Verlauf der Geschichte sind die beiden einem vertraut, sie sind keine Fremdkörper. Genauso, wie die Menschen, die 2020 in Hanau sterben mussten, keine Fremden waren.
Friedrich fühlt sich „halbhalb“ – halb deutsch, halb türkisch. Sophia, die in Offenbach lebt, „ganzganz“ – ganz deutsch, ganz türkisch. Was ist der Unterschied?
Zum einen ist es ein Wortspiel, das interessiert mich als Dichterin sehr. Es geht um Verortung, um Identität, die Heimatfrage. Wo gehöre ich dazu, wo nicht? Das sind typische Fragen, die sich Menschen mit Migrationshintergrund fortwährend stellen. In der Familie, im Freundeskreis, sie schwingen immer mit. Oder sie kommen von außen: Woher man denn ursprünglich sei? Halbhalb hört sich natürlich nicht so vollkommen an. Ganz wiederum ist etwas, das abgeschlossen ist, vollständig, es fehlt nichts. Es ist eher die positive Betrachtungsweise; dass ich beide Kulturen als Bereicherung in mir aufnehme und mich nicht hin- und hergerissen fühle.
Hörspiel „Das Halbhalbe und das Ganzganze“
Das Hörspiel „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can wird am 20. Februar 2022, um 22 Uhr, auf hr2-kultur gesendet und ist ab 19. Februar 2022 in der ARD Audiothek abrufbar.
Der Soundtrack von “Das Halbhalbe und das Ganzganze” stammt von Künstlerinnen und Künstler aus der Hanauer Hip-Hop-Szene, die sich in ihren Songs klar gegen Rassismus positionieren: Aksu, Azzi Memo (feat. Rola), Breaks Mics & Stylez, BRKN, Dein 16er für Hanau: Marshall, Kâzım Koyuncu, Morgenshtern, Tarkan u.a.
Die beiden sind im Grunde bilderbuchintegriert: Sie studieren, hören Klassik, Friedrich guckt gerne Fußball, kellnert in einer Kneipe und trinkt auch selbst Alkohol. Sie stehen mit beiden Beinen in der deutschen Gesellschaft. Oder täuscht das?
Sie sind beide in Deutschland geboren und sozialisiert. Sie führen ein Leben, das mir selbst nicht fremd ist. Eigentlich gibt es keinen Unterschied zu ihren biodeutschen Freunden. Sie diskutieren über Philosophie, lesen Camus und Sartre, interessieren sich für Freud. Damit wollte ich aber natürlich auch bestimmte Klischeebilder sprengen, die leider immer noch existieren. Dass Migranten nur Rap hören, nicht studieren und kein Interesse an Shakespeare-Übersetzungen haben.
Kaum vorstellbar, dass diese superangepassten jungen Erwachsenen Rassismus erleben müssen. Jedenfalls; im Hörspiel wird es nicht thematisiert.
Im Hörspiel ist es kein Thema. Aber ich weiß, dass Friedrich sehr oft zur Kontrolle angehalten wird, wenn er mit dem Auto unterwegs ist und dass er am Flughafen schärfer kontrolliert wird; nur, weil er aussieht wie er aussieht. Das sind aber Dinge, die ich in der Geschichte nicht erwähne.
Safiye Can — Botschafterin der Poesie
Safiye Can studierte Philosophie, Psychoanalyse und Jura an der Goethe-Universität in Frankfurt. Sie ist Autorin und Dichterin und engagiert sich seit 2004 mit Schreibwerkstätten für junge Menschen als Botschafterin der Poesie. Unter anderem wurde sie 2016 mit dem Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis geehrt. Die Kurzgeschichte „Das Halbhalbe und das Ganzganze“, die als Hörspiel-Vorlage diente, erschien 2014. Im vergangenen Jahr wurde ihr Lyrikband „Poesie und Pandemie“ publiziert. Safiye Can hat tscherkessische Vorfahren. Sie lebt in Offenbach.
Während wir der Story von Sophia und Friedrich folgen, werden immer wieder Aufnahmen eingespielt, in denen die Angehörigen der ermordeten Opfer des Hanauer Anschlags zu Wort kommen. Diese Einspieler stammen aus einem früheren Radiofeature. Wie passen die Originaltöne mit der Fiktion zusammen?
Die Geschichte „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ ist ja eine Erzählung aus dem Jahr 2014, als das Attentat in Hanau noch nicht passiert war. Aus dieser Geschichte ein Hörspiel zu machen, war für mich die Gelegenheit, dieses furchtbare Erlebnis mitzuverarbeiten. Das war eine Herzensangelegenheit für mich. Während die Geschichte von Sophia und Friedrich läuft, tauchen immer wieder kurze Originalaufnahmen aus dem Feature auf, und am Anfang weiß man gar nicht; wozu gehören die denn jetzt? Das Problem des rechten Terrors schwingt immer mit in der Geschichte, schon bevor der Rechtsterror im Hanauer Anschlag auf brutalste Weise sichtbar wird.
Das heißt, das Unheil ist die ganze Zeit schon da, es existiert schon lange vor dem Attentat in Hanau?
Ja. Ich lebe in Offenbach, und ich bin in Offenbach geboren. Bis Hanau sind es nur ein paar Haltestellen. Mit dem Attentat war es so, wie es mir damals auch mit Solingen erging. Es war plötzlich nicht mehr mein bekanntes Hanau, sondern auf einmal wurde die Stadt zum Schauplatz eines großen, gesellschaftlichen Problems, das es schon sehr lange gibt. Ich hatte in einem früheren Lyrikband ein Gedicht geschrieben, das „Solingen 1993“ heißt. Es geht so: Immer wenn ich Solingen höre / brennt ein Haus vor meinen Augen. Und so ähnlich ist es jetzt mit Hanau. Wenn eine solche Tat des Rechtsterrors geschieht, dann bist du als Mensch mit Migrationshintergrund auf einmal ein Fremdkörper. Diese Erfahrung machen auch die beiden Charaktere in der Geschichte: dass sie für einen Teil der Gesellschaft nicht dazugehören, dass sie für diese Leute vielleicht nie dazugehören werden.
Sophia erfährt im Radio von dem Attentat. Was verändert sich in diesem Augenblick für sie und ihren Freund?
Die Leichtigkeit zerschellt, als sie vom Attentat in Hanau hören. Zu Beginn der Geschichte geht es um Identitätsfragen und genauso endet sie auch, aber diesmal haben diese Fragen mehr Wucht, sie sind eben nicht mehr von Unbefangenheit getragen. Die beiden müssen versuchen, damit umzugehen, als sie mit der Tat konfrontiert werden, an dem Tag, als das Attentat in ihr Leben bricht, wie es in mein, unser aller Leben eingebrochen ist.
Friedrich schreibt daraufhin das Gedicht „Der Einzeltäter“. Ist es überhaupt möglich, einen terroristischen Anschlag in Poesie zu verwandeln?
Der Poesie sind keine Grenzen gesetzt, sie ist mit all ihren Mitteln ein wichtiges Instrument für uns Menschen, um Türen aufzubrechen, Mauern einzustürzen, Dinge zu verarbeiten. Das Gedicht stammt aus meinem aktuellen Lyrikband „Poesie und Pandemie“. Er beginnt mit dem Gedicht „Einzeltäter“, weil der Rassismus wie Covid-19 auch eine Pandemie ist. Die ganze Welt ist verseucht vom Rassismus. Nicht nur Deutschland. Dazu gehören auch die Diskriminierung von Frauen und der Sexismus. Ich konnte lange Zeit nicht die richtigen Worte finden für das, was in Hanau geschehen ist. Und das Gedicht ist meine Antwort, ohne dass Hanau als Wort darin vorkommt.
Einzeltäter
Ein Einzeltäter
nur ein Einzeltäter
ein Einzeltäter nur
noch ein Einzeltäter
noch ein Einzeltäter
und noch ein Einzeltäter
noch ein Einzeltäter
und noch ein Einzeltäter
noch ein Einzeltäter
und noch ein Einzeltäter
noch ein Einzeltäter
und noch ein Einzeltäter
nur ein Einzeltäter noch
nur noch ein Einzeltäter
und noch ein aller
letzter Einzeltäter
nur einer noch
wirklich
dann wird alles
wieder gut.
(Safiye Can)
Aus: Safiye Can: Poesie und Pandemie. Gedichte. Wallstein Verlag 2021, 96 Seiten, 18 Euro.
In dem Gedicht geht es darum, dass die Gesellschaft das Problem nicht als Ganzes anfasst, sondern immer nur Einzeltäter hinter einem rechtsterroristischen Anschlag wie in Hanau sehen will.
Es ist so, dass wir als Gesellschaft nicht bereit sind, uns mit dem strukturellen Rassismus auseinanderzusetzen, der den Nährboden für Rechtsterrorismus liefert. Wir sind nicht bereit, rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden und in allen Bereichen der Gesellschaft zu sehen und diese zu zerschlagen. Wir tolerieren, dass rechtspopulistische Ansichten zunehmend salonfähig werden und dass bekannte Tageszeitungen oder Mediengruppen mit ihren rassistischen Berichterstattungen maßgeblich dazu beitragen. Und wir schreien nicht auf, wenn Akten des NSU-Prozesses für Jahrzehnte unter Verschluss gehalten werden, nur um die Identität fragwürdiger V‑Männer zu schützen. All das würde nämlich ein hohes Maß an Aufrichtigkeit und die Fähigkeit zur Selbstkritik erfordern. Der Staat, die Politik und die Gesellschaft müssten sich viele Fehler eingestehen. Das ist aber unbequem und schmerzhaft. Viel einfacher ist es, sich der Mär vom Einzeltäter zu bedienen.
Wie haben Sie von dem Anschlag erfahren?
Ich habe zuerst über die Sozialen Medien davon gehört. Es war erst mal die Rede von einem Amoklauf, aber als dann gesagt wurde, dass er in einer Shisha-Bar war, war mir klar, dass es rechter Terror sein musste. Es folgte ein Chaos an Gefühlen. Da war ganz viel Wut auf die Politik, auf die Gesellschaft, da war Ohnmacht. Und Trauer, ganz viel Trauer. All das in voller Ladung. Es kam alles wieder hoch: Solingen, Mölln, die NSU-Mordserie. Es ist unglaublich, dass immer noch Menschen sterben müssen, nur weil sie einen Migrationshintergrund haben. Schlussendlich habe ich geweint. Und Sie merken: Die Fassungslosigkeit ist bis heute nicht weniger geworden.
Das Gespräch führte Lisa Berins