Rezension Berliner Zeitung 2020
Berliner Zeitung
SONNABEND, 06.JUNI / SONNTAG, 07.JUNI 2020
Rezension zu Rose und Nachtigall
LYRIK
Nur Du,überall Du
Es gibt sehr gute Dichtung, phänomenale Dichtung – und es gibt Safiye Can. Nur selten erlebtmanalsLeser,dassdas,wasinBuchstaben gebannt ist, genauso dem eigenen Inneren entsprungen sein könnte. In den Liebespoemen des Bandes „Rose und Nachtigall“ sind solcherlei Ausnahmemomente in einer ungewöhnlichen Vielzahl vorzufinden: Menschen, die einander begehren und ob ihrer Unterschiedlichkeitdochnichtzusammenfinden; Getrennte, die sich erhoffen, sich gegenseitig in ihren Träumen zu umhüllen; ein Ich, das überall nur noch das Du zu erblicken glaubt. Tiefe Sehnsucht, überschwängliche, schmerzvolle Gefühlsgewalt und immer wieder die Dialektik aus Anfang und Ende bestimmen die fein gewobenen Texte: „Solange ich dich dachte / warst du reell/ existenziell/ mit drei Punkten/ begann ich dich/ mit einem/ wirst du jetzt /n i c h t s.“ Die Gedichte der in Offenbach am Main geborenen Schriftstellerin Can, deren Timbre und Ausdrucksschärfe sichtlich an die Liebesgedichte eines Erich Fried oder einer Hilde Domin anknüpfen, zählen zweifelsohne zum Wuchtigsten und Überragenden,was man in der derzeitigen Lyrik entdecken kann. Lieben und Verlassen lernt man im Leben, die Verarbeitung dieser Erfahrungen hingegen in „Rose und Nachtigall“.
Safiye Can: Rose und Nachtigall. Wallstein.Göttingen 2020.108S., 18Euro
von Björn Hayer