Rezension Literaturfestival globale 2017
Lest Gedichte!
Rezension von Celina Imm
Gedichte zu rezensieren ist eine schwierige Angelegenheit. Sie sind unter den literarischen Wesen, diejenigen, die einem auf drastischste Weise alles oder nichts sagen, und manchmal bekommt man ein Alles, wo man lieber ein Nichts gebraucht hätte oder man steht vor einem Nichts, das einem alles verschließt. Es ist also ein schmaler Grat: Wenn das Verhältnis von Alles und Nichts nicht stimmt, dann kann man über Lyrik vielleicht alles schreiben, aber nichts wird dem Gedicht gerecht. Kinder der verlorenen Gesellschaft ist bereits der dritte Lyrikband der Dichterin, die in Offenbach am Main als Kind tscherkessischer Eltern geboren wurde. Mit der türkischen Sprache großgeworden, kam das Deutsche erst in der Grundschule dazu und vielleicht ist es dieser Umstand, der es Safiye Can erlaubt auf so experimentelle und spielerische Art die Möglichkeiten der Sprache auszuloten. In Cans Gedichtsammlung sind Wörter nicht einfach Wörter: Sie formen die Gedichte zu konkreter Poesie, sie sind Zeitungsschnipsel, die neu zusammengesetzt werden und wörtlich genommene Sprichwörter. Safiye Can bringt den Leser ins Stolpern, ihre Wörter widersetzen sich einem zu sicheren und zu schnellen Verstehen und vor allem dem Schicksal leere Worthülsen zu sein. Man hat den Eindruck, ihre Poesie nimmt die Wörter in Pflege, um ihnen wieder mehr Gehalt zu verleihen.
Ihre Gedichte kreisen um Fragen, sie gehören nicht in den Bereich klarer Antworten und schon gar nicht in die Sphäre wo „pünktliche Termine/ frische Säfte/ Konferenzräume“ herrschen und in der es „Bananenboxen […] Briefbeschwerer, Herrendiener und Kräuterstreusel am Tellerrand“ gibt. Vielmehr sprechen sie – wie der Titel bereits ankündigt – vom Verlorensein und dem Suchen nach seinem Platz, ohne Garantie, dass dieser überhaupt existiert. Wo darf man hin? Wie muss man reinpassen? Ist Heimat „ein rüsseliges Ding mit Zimt obendrauf“ oder „eine todernste Sache/ mit Schnauzbart“? Und welchen Raum lässt eine profitorientierte Gesellschaft für „damit-verdienst-du-keinen-Cent-Gedichte“? Dabei oszillieren ihre Verse zwischen mutig-zarter Intimität, wenn sie über Liebe schreibt, und Revolte gegen den Zustand der Welt, in der Menschen wegen Rassismus sterben („Wann immer ich Solingen höre/brennt ein Haus vor meinen Augen“). Dieses Zusammenprallen von Liebesgedicht und politischem Gedicht irritiert, man möchte das eigentlich gerne in Reinform haben: die pure Liebe oder die klare Anklage. Aber so ist das eben nicht. Beides existiert auf geradezu unangemessene Art nebeneinander: „Jede Liebe sitzt im Riesenrad/so als säße sie das erste Mal dort / als gäbe es kein Vorher/ […] keine Panzerwagen, kein Verhungern / als gäbe es kein Erfrieren, keinen Henker.“
Es ist möglicherweise das Talent derjenigen, die sich verloren fühlen in der Gesellschaft, dieses groteske Nebeneinander sehen zu können. Gerade die, die ihren Platz nicht finden können, können von der Merkwürdigkeit der Welt berichten und im besten Fall eine Re-sensibilisierung dafür anstoßen, dass der Status quo eben nicht normal ist. Tatsächlich stellt man sich nach der Lektüre die Frage, ob der wirklich verlorene Teil der Gesellschaft nicht der ist, der sich selbst nicht verloren glaubt, der mit allzu großer Sicherheit weiß, was Integration und Heimat zu bedeuten haben und wer dazu gehören darf. Und ob es nicht allen sehr gut tun würde, diesen Menschen Safiye Cans Gedichtband an den Kopf zu werfen, zusammen mit ihrer Aufforderung: Lest Gedichte!
Kinder der verlorenen Gesellschaft, Safiye Can, 2017, Wallstein Verlag, 90 Seiten, 18 Euro.
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