6 Nov

Unna: Preis für aufrechte Literatur 2016

SAFIYE CAN alfred müller felsenburg preis für aufrechte literatur 2016_nicolaihaus unna schwerteVer­lei­hung des Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis­es 2016
an Safiye Can

Die Dich­terin, Autorin und lit­er­arische Über­set­zerin Safiye Can wird im Rah­men ein­er feier­lichen Zer­e­monie mit dem diesjähri­gen “Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis für aufrechte Lit­er­atur” aus­geze­ich­net.Safiye Can Alfred-Müller-Felsenburg Preis für Aufrechte Literatur

Beginn: 06.11.2016 / 11:00 Uhr
Ort:

Nico­lai­haus Unna
Nico­lais­traße 3, 59423 Unna

Ein­tritt: frei
Ver­anstal­ter: Sekre­tari­at für den Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis und West­fälis­ches Literaturbüro

  “Es ist nicht anmaßend, Safiye Can, diese junge Tscherkessin, die in Offen­bach geboren wurde, in einem Atemzug mit großen deutschen Dich­terin­nen wie Inge­borg Bach­mann, Marie Luise Kaschnitz oder Sarah Kirsch zu nen­nen, deren Nach­folge sie schon seit langem, bish­er lei­der zu wenig wahrgenom­men, ange­treten hat.” Michael Star­cke (1949−2016), Jurymitglied

Das Sekre­tari­at für den “Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis für aufrechte Lit­er­atur” lädt zur diesjähri­gen “Alfred-Müller-Felsen­burg-Preisver­lei­hung” an die Lyrik­erin Safiye Can ein. Die öffentliche Preisver­lei­hung find­et im Rah­men des Pro­jek­ts lit­er­atur­land west­falen im Nico­lai­haus Unna (Sitz des West­fälis­chen Lit­er­atur­büros), Nico­lais­traße 3, 59423 Unna, statt.

Grußworte sprechen Elke Mid­den­dorf, stel­lv. Lan­drätin des Kreis­es Unna, und Michael Fal­l­en­stein, Sohn des Namensge­bers. Die Lau­da­tio hält Rudolf Damm aus Hagen. Die Preisver­lei­hung nimmt Pit Böh­le, Geschäfts­führer des West­fälis­chen Lit­er­atur­büros in Unna e.V. vor. Für den musikalis­chen Beitrag kon­nte Nor­bert Labatz­ki, kün­st­lerisch­er Leit­er von “Mazel Tov” gewon­nen werden.

Safiye Can wurde 1977 als Kind tscherkessis­ch­er Eltern in Offen­bach am Main geboren. Sie hat Philoso­phie, Psy­cho­analyse und Rechtswis­senschaft an der Goethe Uni­ver­sität in Frank­furt am Main studiert und ist Kura­torin der “Zwis­chen­raum-Bib­lio­thek” im Auf­trag der Hein­rich-Böll-Stiftung. Sie leit­et erfol­gre­ich Schreib­w­erk­stät­ten an Schulen und ist als Über­set­zerin von Gedicht­en aus dem Türkischen tätig, dafür erhielt sie mehrere Lit­er­atur­preise. Am 11. Novem­ber erhält sie den “Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis 2016”. Die deutsch-türkisch-tscherkessis­che Autorin lebt in Offen­bach am Main.

Kon­takt: Sekre­tari­at für den Alfred-Müller-Felsen­burg‑Preis für aufrechte Lit­er­atur, c/o Thorsten Tre­len­berg, Große Mark­t­straße 1, 58239 Schw­erte, Tel. 02304/15908.

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Sehr geehrter Herr Trel­len­berg, Herr Falken­stein, Herr Damm, Herr Böhle
Sehr verehrte Frau Safiye Can, sehr geehrte Gäste

Her­zlich Willkom­men im Kreis Unna, Danke für die Ein­ladung. Es ist mir eine beson­dere Freude Ihnen als Preisträgerin, den Ver­ant­wortlichen und Gästen die Grüße und Glück­wün­sche des Kreis­es Unna und des Lan­drates Michael Maki­ol­la zu überbringen.

So ist die heutige Ver­lei­hung des Alfred-Müller-Felsen­burg Preis­es für aufrechte Lit­er­atur in dieser Ein­rich­tung hier in Unna beson­ders gut aufge­hoben. Nicht nur weil sie im Kreis Unna liegt, son­dern weil das west­fäl. Lit­er­atur­büro als „Lob­byein­rich­tung“ für Lit­er­atur es sich zur Auf­gabe gemacht hat u.a. den Aus­tausch zwis­chen Autoren und Lesern zu fördern und Schrift­stellern und Tal­en­ten Per­spek­tiv­en zu eröffnen.
Es hil­ft und berät Infra­struk­turein­rich­tun­gen in unsern 10 Kreisange­höri­gen Städten und Gemein­den. Bib­lio­theken, beson­ders auch Schulen, Kul­tur­büros usw. par­tizip­ieren davon. Ihre Arbeit in Form von Schreib­w­erk­stät­ten ist sicher­lich ein guter Weg jun­gen Men­schen den Umgang mit Sprache näherzubrin­gen. Wenn unsere Schüler nach wie vor im Deutschunter­richt große Män­gel aufweisen, dann muss man neue Wege suchen ihnen den Spaß an Sprache zu ver­mit­teln. Wer wäre bess­er dazu geeignet als sie, die Lyrik­erin Safiye Can.

Meine Damen und Herren
Durch die Unter­stützung des Net­zw­erk-und Mar­ket­ing­pro­jek­tes „Lit­er­atur­land West­falen“ wird die Koop­er­a­tion zwis­chen Lit­er­a­turein­rich­tun­gen dauer­haft gefördert und ein größer­er Radius geschaffen.
Wir sind heute zusam­mengekom­men, um den Alfred-Müller-Felsen­burg 2016 zu ver­lei­hen. Ein Preis für aufrechte Lit­er­atur. Damit sollen unkon­ven­tionelle und kri­tis­che Werke geehrt wer­den, bei denen Zivil­courage im Mit­telpunkt ste­ht. Lit­er­at­en, die bish­er von Kri­tik­ern wenig beachtet wer­den sollen in den Mit­telpunkt gerückt wer­den. Die Stifter und ehem. Preisträger, die als Jury fungieren, haben auch in diesem Jahr eine sehr gute Wahl getroffen.

Meine Damen und Herren,
Eine junge Frau, die von Kind an bewiesen hat, dass sie ihren Weg gehen will. Sie hat Rück­grat gezeigt und sich nicht beir­ren lassen und ist damit zu ein­er beein­druck­enden Schrift­stel­lerin­nen­per­sön­lichkeit gewor­den. Frau Safiye Can hat eine beein­druck­ende per­sön­liche Biogra­phie. Es wird sich­er noch einiges dazu gesagt wer­den. In der Hoff­nung Sie nicht zu lang­weilen, möchte ich doch kurz auf diesen außergewöhn­lichen Werde­gang eingehen.

Meine Damen und Herren,
Die Frank­furter All­ge­meine Zeitung titelte: „Das sprachlose Kind als Dich­terin“. Ja, Sie hat­ten denkbar schlechte Voraus­set­zun­gen, als Sie prak­tisch ohne deutsche Sprachken­nt­nisse eingeschult wur­den. Das „sprachlose Kind“ hat es allen gezeigt. Gegen Fehlein­schätzung haben sie sich gewehrt und haben Ihren Weg weit­er­ver­fol­gt. Sie sagen sel­ber, dass Sie froh seien mit der türkischen Sprache aufgewach­sen zu sein und dass der Migra­tionsh­in­ter­grund schon eine Bedeu­tung für Sie habe, Sie aber nicht darauf reduziert wer­den möchten.

Frau Can
In einem Inter­view haben sie auf die Frage, wie Ihre Texte entste­hen gesagt: „Die fließen mir oft so zu, egal ob auf der Straße oder son­st wo. Vielle­icht ist das eine Erk­lärung für Ihre bewe­gen­den Gedichte und Texte. Sie kom­men direkt aus dem Leben, aus Ihrem Leben. In einem anderen Inter­view wur­den Sie gefragt, welche drei Sub­stan­tive Ihnen zu dem Wort Liebe ein­fall­en. Mich hat beson­ders beein­druckt, dass Sie nach kurzem Zögern zu den Wörtern Zunei­gung und Sehn­sucht auch das Wort Hass nan­nten. Dass Liebe und Hass im Leben lei­der oft sehr eng zusam­men liegen erfahren wir täglich.

Meine Damen und Herren,
Inte­gra­tion, Umgang mit frem­den Kul­turen und das Ver­ste­hen von frem­den Men­schen sollte nicht nur ein The­ma für Frau Can sein, son­dern sollte uns alle beschäfti­gen. Mit ihren Gedicht­en und Tex­ten tra­gen Sie dazu bei, dass Men­schen vielle­icht wieder mehr Empathie für die Sor­gen ander­er entwick­eln, auch wenn ihnen diese Sor­gen fremd sind. Wir brauchen Men­schen, die Augen, Ohren und Herzen öff­nen drin­gen­der denn je.
Ich danke Ihnen und grat­uliere noch ein­mal ganz her­zlich. Den Ver­anstal­tern eben­falls her­zlichen Dank und ich hoffe, sie bleiben im Kreis Unna.

Elke Mid­den­dorf, stel­lv. Lan­drätin, Kreis Unna

LAUDATIO

abschied
der tag begin­nt spät

wie manch­mal
das eigene leben
mit einem blick aufs meer.
ein schiff segelt dahin
am hor­i­zont
in einem sil­bri­gen licht
zeit­los­er wolken
so bleibt es im gedächtnis
unvergessen,
ein fast vol­lkommenes glück
ohne ent­täuschung
und nieder­tra­cht
und doch:
die men­schen am ufer
wer­den davongehen
und ein­mal nicht mehr
zurück­kehren, andere menschen
wer­den sie ersetzen,
um die welt später
zu ver­lassen wie einen traum.

der tag begin­nt spät,
wie immer, wenn es zeit wird,
die kof­fer zu packen
für eine andere
unbe­ab­sichtigte reise.

Mit diesem Gedicht des am 19. Feb­ru­ar diesen Jahres viel zu früh ver­stor­be­nen „Alfred-Müller-Felsen­burg-Preisträgers für Aufrechte Lit­er­atur 2013“ Michael Star­cke beginne ich meine Lau­da­tio auf die diesjährige Preisträgerin Safiye Can.

Denn Michael Star­cke war es, der als Jurymit­glied des „Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis­es“ den Namen der Offen­bach­er Lyrik­erin als Preisträgerin 2016 ins Gespräch brachte und sich vehe­ment für sie einge­set­zt hat. Ihm ist es zu ver­danken, dass die anderen Juroren auf sie aufmerk­sam wur­den und sich beein­druckt durch die unver­wech­sel­bare Dik­tion und Wahrhaftigkeit ihrer poet­is­chen Aus­druck­skraft und die Meis­ter­schaft ihrer Sprache für Safiye Can entsch­ieden.

Als mehrfach­er Lauda­tor der „Müller-Felsen­burg-Preisträger“ der ver­gan­genen Jahre freute ich mich auf die vor mir liegende Auf­gabe, ist doch Offen­bach am Main die Stadt, in der ich entschei­dende Jahre mein­er Jugend ver­bracht und dort auch das Abitur gemacht hat­te, diese kleine  Großs­tadt im Schat­ten des über­mächti­gen Nach­barn Frank­furt am Main, die mir Heimat gewor­den war und mit der ich mich bis heute ver­bun­den füh­le. Und dann auch noch eine Offen­bacherin türkisch­er Abstam­mung – der Türkei, mit der ich mich aus fam­i­lien­his­torischen Grün­den und meinem zwei­jähri­gen Ger­man­is­tik­studi­um an der Istan­buler Uni­ver­sität und den dabei ent­stande­nen Fre­und­schaften vor fast nun 50 Jahren in kri­tis­ch­er Fre­und­schaft auseinan­der­set­ze! Und dann ist Safiye Can auch noch tscherkessis­ch­er Abstam­mung, was bedeutet, dass ihre Vor­fahren vor 150 Jahren aus ihrer anges­tammten Heimat im rus­sis­chen Zaren­re­ich in das dama­lige Osman­is­che Reich zwang­sum­ge­siedelt wur­den und ihnen damit das Schick­sal von Min­der­heit­en lei­d­voll bekan­nt ist – ich dachte dabei eher an einen lukullis­chen Genuss: das „Cerkes Tavug“ – auf Deutsch „Tscherkessis­ches Huhn“ ein aufwendi­ges Gericht u.a. mit gehack­ten Wal­nüssen, für das ich, gut gemacht, fast alles Andere ste­hen lasse!

 Aber Michael Star­cke bat mich, ihm die Lau­da­tio auf Safiye Can zu überlassen.

 Und wenn man seine Gedanken im Vor­wort der 2. Auflage ihres Lyrik­ban­des „Rose & Nachti­gall“ gele­sen hat, wird dem Leser sofort klar, dass nur Michael Star­cke der angemessene Lauda­tor für die Dich­terin hätte sein müssen:

Liest man die Gedichte der Dich­terin laut, erken­nt man einen melodiösen und eigen­willi­gen Klang, der dem Geschriebe­nen als Vehikel dient, um Aus­sagen und Botschaften zu trans­portieren und bekräfti­gend zu unter­malen, einen Sound, ein Marken­ze­ichen, das, wie ich meine, diese Verse orig­inär und unver­wech­sel­bar macht. Eben­so gewin­nt man durch die Wahl der Meta­phern, die zwis­chen Mor­gen­land und Abend­land, zwis­chen Über­liefer­un­gen und frischen Ideen ange­siedelt sind, den Ein­druck, Gedichte wie diese noch nie gele­sen zu haben, das The­ma Liebe, alt wie die Men­schheit, in neue, uner­wartete Sprach­bilder gek­lei­det, die im Gedächt­nis haften bleiben, weil man sie wed­er vergessen möchte noch vergessen kann.

Safiye Can schreibt von der Liebe stür­misch, nach­den­klich. trau­rig, him­mel­hoch­jauchzend zu Tode betrübt, wie man sagt, vom Ver­liebt sein, von „der Metaebene“, vom Ver­lassen wer­den und Ver­mis­sen. Nach­haltig beschreibt sie das Für und Wider, die Zweifel, den Ver­such, das gegen­sät­zliche zu einem Ganzen wer­den zu lassen, Spannungsbögen.

Es ist nicht anmaßend, Safiye Can, diese junge Tscherkessin, die in Offen­bach geboren wurde, in einem Atemzug mit großen deutschen Dich­terin­nen wie Inge­borg Bach­mann, Marie Luise Kaschnitz oder Sarah Kirsch zu nen­nen, deren Nach­folge sie schon seit langem, bish­er lei­der zu wenig wahrgenom­men, ange­treten hat

Safiye Can wird zu den großen Dich­terin­nen unseres Jahrhun­derts gezählt werden.“

Diese sachkundi­ge und gle­ichzeit­ig so poet­is­che „Liebe­serk­lärung“ des Dichters Michael Star­cke an die Dich­terin Safiye Can beein­druck­te mich 2014 und  beein­druckt mich noch heute zutiefst.

Mir fiel als altem Offen­bach­er dabei ein, dass auch Goethes Lil­li Schöne­mann eine Offen­bacherin war …

Und jet­zt ste­he ich, der hier nicht ste­hen sollte, an  Michael Star­ck­es Stelle, weil der „Schnit­ter Tod“ wieder ein­mal alle Pla­nun­gen ad absur­dum geführt hat.

Und ich habe natür­lich meinen sub­jek­tiv­en Blick auf diese ost-west­liche Dich­terin mit dem gelun­genen Spa­gat zwis­chen Ori­ent und Okzi­dent, zwis­chen ihrem Geburt­s­land Deutsch­land und dem kul­turellen und sprach­lichen Herkun­ft­s­land ihrer Eltern, der Türkei. Ich glaube die kri­tis­che Ver­bun­den­heit zu spüren, wenn ich Gedichte lese wie das mit dem Titel Gewe­sene Tage in ihrem Gedicht­band „Rose & Nachti­gall

Gewe­sene Tage

Abends lagen wir auf der Wolke
bei Tages­licht auf fes­tem Boden

wollte ich dich nie austauschen 
doch bet­rogst du mich
mit Istan­bul, dieser Dirne
vorhin stieß ich an deine Wasserpfeife
blau stürzte sie und brach sich das Genick
ich fasste mir jäh ans Herz.

Wie ich die Meta­phern „Istan­bul“ und „Wasserpfeife“ inter­pretiere, brauche ich hier nicht weit­er zu erläutern!

Und in einem weit­eren Gedicht mit dem Titel Ein solch­er Regen aus dem Gedicht­band Diese Hal­testelle habe ich mir gemacht, dessen 2. Auflage im Juni 2016 erschienen ist, spricht sie meine Istan­buler Erin­nerun­gen an und lässt die beschriebene Sit­u­a­tion vor meinen Augen lebendig werden:

 

Ein solch­er Regen

In Istan­bul reg­net es
an einem Jan­u­artag in Strömen
die Däch­er reg­nen, die Straßen, die Läden
mit dem Regen­wass­er fließt alles
alles fließt Caga­loglus Straßen hinunter
mit großen Augen blick­en die Häuser
blick­en stumpf, stumpf auf das Kopfsteinpflaster.

Das ist nicht nur eine großar­tige Beschrei­bung der win­ter­lichen Wirk­lichkeit Istan­buls, die mit dem touris­tis­chem Bild der son­ni­gen Som­mer­monate rein nichts gemein­sam hat und sie ist nicht nur der Aus­druck ein­er momen­ta­nen rein pri­vat­en Gefühlsstim­mung, nein, ich erkenne in diesen Zeilen auch die Verzwei­flung der poli­tis­chen Dich­terin Safiye Can über die poli­tis­chen Zustände in der Türkei, ange­fan­gen von den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 bis zu den schreck­lichen Ereignis­sen, den Ver­haf­tun­gen und Folterun­gen nach dem Mil­itär­putsch vor weni­gen Monat­en. Eine poli­tis­che Safiye Can,

die ihre Stimme erhoben hat auf der diesjähri­gen Frank­furter Buchmesse, die am 18. Okto­ber mit dem aus ihrer Zelle

her­aus­geschmuggel­ten drama­tis­chen Appell der in Istan­bul inhaftierten türkischen Schrift­stel­lerin Asli Erdo­gan eröffnet wurde. In dieser Botschaft drückt sie ihre Hoff­nung aus, dass trotz der „unvorstell­baren Rohheit“ mit der in ihrem Land ver­sucht werde, „die Wahrheit zu töten“, auf ein Ende dieser Zustände hoffe. „Auch wenn ich nicht weiß, wie, aber die Lit­er­atur hat es immer geschafft, Dik­ta­toren zu überwinden.“

Der Vorste­her des Börsen­vere­ins des Deutschen Buch­han­dels, Hein­rich Rieth­müller ver­wies in sein­er Rede auf die 140 in der Türkei geschlosse­nen Medi­en­häuser, darunter 30 Buchver­lage und mehr als 130 dort inhaftierte Autoren und Jour­nal­is­ten. (Zitiert nach der FAZ vom 19.10.2016, Seite 1)

Und am 4. Novem­ber, nach der Ver­haf­tung der Chefredak­teure der „Cumhuriyet“,  ste­ht ein weit­er­er aus dem Gefäng­nis geschmuggel­ter Appell von Asli Erdo­gan in der „Frank­furter All­ge­meinen“: „Die türkische Regierung hat sich entsch­ieden, alle Geset­ze zu ignori­eren. … Jede Mei­n­ung, die auch nur ein biss­chen von jen­er der Herrschen­den abwe­icht, wird gewalt­sam unter­drückt.“ Sie fordert jet­zt unsere – der Europäer – volle Sol­i­dar­ität und Unter­stützung. Der Ver­gle­ich mit der Sit­u­a­tion in Deutsch­land nach dem 30. Jan­u­ar 1933 wird in der Türkei von Tag zu Tag realistischer!

Bei der Beschrei­bung dieser Sit­u­a­tion darf aber kein Gefühl der moralis­chen Über­legen­heit aufkom­men – Alfred Müller-Felsen­burg hat nicht ohne Absicht nach den Erfahrun­gen des 3. Reich­es den Preis aus­drück­lich für „Aufrechte Lit­er­atur“ benen­nen lassen! Denn wie Safiye Can schon in einem Inter­view 2013 während der Gezi-Park-Proteste aus­drück­lich sagte: „ Die Europäer sind nicht unschuldig an der momen­ta­nen Sit­u­a­tion. Men­schen­rechtsver­let­zun­gen, Zen­sur und eine willkür­lich agierende Jus­tiz wur­den von den rneis­ten  überse­hen.( … ) Gle­ichzeit­ig hält man die Türkei aber seit Jahrzehn­ten hin, was den EU-Beitritt bet­rifft. Wenn sich ein großer Teil der türkischen Bevölkerung nun zunehmend dem Osten und dem kon­ser­v­a­tiv­en Islam zuwen­det, dann haben die Unentschlossen­heit und das schein­heilige Ver­hal­ten Europas maßge­blich dazu beige­tra­gen.( … ) Aber auch wir, jed­er einzelne von uns kann etwas tun. Wir dür­fen nicht schweigen, nicht nur im Bezug auf die Türkei. Die Welt gehört uns allen und was in den Geschichts­büch­ern ste­ht und vor allem auch ste­hen wird, ist unsere gemein­same Geschichte.

(Inter­view mit Safiye Can im Blog der Face­book Seite „Halte durch, Türkei“ am 17. Juli 2013)

Wenn man diese Worte im Ohr behält, dann ver­ste­ht auch der abendländis­che Leser das fol­gende „Hal­testellen“- Gedicht richtig, das mich zutief­st anrührt und eine ungestillte Sehn­sucht aus­löst nach dem Istan­bul, wie ich es erlebt habe vor fast 50 Jahren beim Ruf des Muezzins im Wech­sel von Tag und Nacht, mir Ver­trauen ein­flößend, nicht Furcht vor dem Frem­den und es hat für mich den gle­ichen Stel­len­wert bekom­men wie Orhan Velis berühmtes Gedicht – neu von Safiye Can über­set­zt – „Ich höre Istan­bul mit geschlosse­nen Augen“

Des Muezzins Ruf am Mor­gen fehlt mir hier 
waren Sie schon mal in Sultanahmet

Da sin­gen sie aus dem Minarett
so schön, dass man fliegen möchte
ken­nen Sie Vorurteile?

Ver­ste­hen sie gar nicht so was?
Sehn Sie, drum hab ich mir
diese Hal­testelle gemacht
ein biss­chen Stahl hab ich gemacht
die Möwen ver­mis­ste ich auch
so sehr, aber er ging
ein­fach so, ver­stehn Sie das
wohin sollte ich die Möwen tun?

Michael Star­cke schreibt dazu in sein­er in der 2. Auflage von „Diese Hal­testelle hab ich mir gemacht“ als Nach­wort abge­druck­ten Rezen­sion von 2015:

Die Hal­testelle der Dich­terin ist ein Ort für Gedanken, Illu­sio­nen, Reflex­io­nen und vielle­icht ein erlösender Ort; „Leben und Wesen“ der Dichtkun­st und Heimat der Fantasie:

Wo immer ich bin, da ist Heimat
da ist die Heimat­frage, da ist Ferne

ich ver­lor mich mal, andere ver­loren sich
und fand mich wieder; viele blieben verschollen
aus den Wörtern die richti­gen zu fischen
darauf kommt es manch­mal an

Safiye Cans neues Buch ist nicht nur für heute wichtig und passend. Es ist Poe­sie, die einen zu einem besseren Men­schen macht, so tröstlich wie ein geschenk­tes Bett und eine wär­mende Decke. Es ist kurzum eine Tür, geöffnet für Fre­und­schaft, Liebe und Mut zum Ver­ste­hen und zur Ver­ständi­gung, ein Meisterwerk.“

Soweit die ver­ständ­nisvollen Worte und Gedanken des Dichters Michael Star­cke für das Werk der Dich­terin Safiye Can, die zu Hause ist in Worten und Gedanken, in Abend­land und Morgenland.

Mit den Worten des Frank­furters Johann Wolf­gang von Goethe, der sich auch in Offen­bach auskan­nte, will ich schließen:

Wer sich selb­st und andere kennt,
wird auch hier erkennen:

Ori­ent und Okzi­dent sind nicht
mehr zu trennen.“

Safiye Can erhält heute zu Recht von uns den „Alfred-Müller-Felsen­burg-Preis für Aufrechte Lit­er­atur“, auch für ihre 2014 erschienene Erzäh­lung „Das Halb­halbe und das Ganz­ganze“ von der Michael Star­cke tre­f­fend bemerkt: „Wie gesagt, Safiye Can kann auch Prosa und wie!“ 

 Für ihre Dich­tung und ihre Men­schlichkeit bei  der Ver­mit­tlung ihrer bei­den Kul­turen danken wir ihr! 

Am kom­menden Fre­itag, dem 11.11.2016 erhält sie in Wup­per­tal den „Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis“ – dazu unseren aufrichti­gen Glückwunsch!

Rudolf Damm