Buchrezension Fixpoetry 2017
22.5.2017
Buchrezension, Fixpoetry: Kinder der verlorenen Gesellschaft
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„Wir sind alle blöd“
Anderthalb Jahre nach „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“ und zwei namhafte Literaturpreise später veröffentlichte Safiye Can am 27.02.17 ihr neustes Werk. „Kinder der verlorenen Gesellschaft“ versammelt in sechs Kapiteln neue Lyrik der Offenbacher Dichterin. Der Band erschien im renommierten Wallstein Verlag, der sein zeitgenössisches Repertoire mit Can um einen Höhepunkt erweitert.
Im vergangenen November erst erhielt sie den Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur und den Else Lasker-Schüler Lyrikpreis. Ihre zwei bisherigen Lyrikbände sind schon – ganz genreuntypisch – Bestseller.
Viel Lob also für die 1977 geborene Dichterin. In Anbetracht der Qualität und Relevanz ihres Werkes ist das angebracht – auch in Hinsicht auf den neusten Band.
Wie in ihren zwei Gedichtbänden zuvor gibt ein Langgedicht dem neusten Buch seinen Titel: „Kinder der verlorenen Gesellschaft“ handelt von gefährdeter Liebe und der Isolation in einer Gesellschaft, die Empathie und die Fähigkeit zu authentischer Begegnung verloren zu haben scheint. „Wir begegnen uns kaum“, schreibt Can, zwischen dem „hier“ und dem „drüben“. Das lyrische Ich erzählt in dieser Geschichte von der Scham darüber, scheinbar nichts im Griff zu haben, und der Angst vor der Utopie der Liebe. Viele Sätze resonieren so treffend wahr, dass man laut nicken möchte, wenn da steht: „Wir sind alle blöd“.
(Auszug aus Langgedicht)
Hier begegne ich kaum jemandem
wir müssten viele sein
ich sehe sie nicht, doch ich fühle.
Das Hier hat viele Quadratmeter
da kann man laufen und laufen, meilenlang
vor einem Weite: da steht niemand.
Übrigens kann ich schnell laufen
meine Gedanken sind schon überall
immerzu hole ich mich selbst ein
stolpere über mich selbst.
Panikattacken kennt man hier auch
drüben kennen sie das Wort Panikattacke
finden sie trés chic, wir fändens besser
es gäbe keine
darin liegt ein großer Unterschied.
aus: Kinder der verlorenen Gesellschaft, S. 83
Cans lyrische Repräsentanz spricht in einem vertraulichen Duktus immer wieder mit dem Leser, fragt: „Versteht man mich da draußen überhaupt?“. Was das Werk auszeichnet, ist die Klarheit und Verständlichkeit, mit der sie ihre Themen aufarbeitet. Sie spielt unbefangen und mutig mit der Sprache und wird selten zu abstrakt. Wer sich Cans Lyrik widmet, stößt auf Poesie in konkreter, fassbarer Hülle. Eine klare, einfache Sprache, die in ihrer Intensität, Mehrdeutigkeit und Durchdachtheit überrascht. Ja, wir verstehen dich, möchte man rufen, immer wenn man als Leserin adressiert wird. Wie die Bände zuvor ist dieser dem Rezipienten gewidmet. Der wird zum Dreh- und Angelpunkt in der Suche nach Begegnung.
Von einer solchen Suche handeln die Gedichte, von Liebe, vom Verhältnis des Subjekts zur Realität. Es geht ums Ankommen, Verlieren, und darum, die Wunder des Alltags zu bestaunen. Can erzählt vom prekären Leben als Dichterin und demonstriert eindrucksvoll die Kraft der Worte. „Die Kunst ist das Gärmittel meines Bestehen Könnens“, schreibt sie, und man glaubt es ihr. Wo es um die Liebe geht, wird es mal verzweifelt und düster („Wie tötet man nur eine Liebe, ich weiß es nicht / ohne sich selbst zu töten“), aber auch leicht und kindlich beseelt.
Heute hat mich ein Junge auf die Wange geküsst
nun habe ich seine Lippen mit nach Hause getragen
und etwas Bart und den Schnäuzer
er hat seine Lippen dagelassen
und ist einfach weggeradelt
mit meiner Wange.
(„Warmes im Bauch“, S. 26)
Die Frage nach dem Ankommen und nach Heimat verarbeitet Can in bedrückend ehrlichen, kritischen Versen. Das neue Buch ist offener in seinem politischen Standing. Schon das erste Kapitel „Wo wir sind, was wir sind“ enthält den Wunsch, dass „die Realität zerbräche an unser aller Liebe“; denn diese Realität ist eine mit brennenden Häusern („Solingen, 1993“) und nicht erträglich für das feinfühlige, unabgestumpfte lyrische Ich. Das Kapitel „Azurblauer Aufbruch“ verbreitet Aufbruchsstimmung, ist ein mit Nachdruck und Überzeugung geführter Federstrich für intensives Leben und Harmonie. Für das Kapitel hat Can mit Zeitungsschnipseln und Diskursen gespielt. Die entstandenen Collagen ebenso wie die lustvoll arrangierten Gedichte erweitern das Buch um eine wertvolle grafische Ebene. Can ist der Konkreten Poesie treu geblieben.
Und ihre Gedichte, die sind einfach voll da. Genau wie sie selbst, wenn sie liest. Dann ist Safiye Can mit ihrer Stimme so präsent, dass man erwartet, gegen die Wand gedrückt zu werden. Vielleicht ist es auch die Wucht der Texte. Cans Gedichte sind zum Lautlesen gemacht, zum Teilen, sie entfalten eine fast hypnotische Wirkung. Aus ihrem Auftritt selbst wird Poesie, wenn sie etwa die „destruktiveren“ Texte im Stehen liest, die Blätter fallen lässt, die Worte legatissimo aneinanderreiht.
Natürlich ist das alles persönlich, natürlich geht es auch um sie, aber sie verliert sich nicht im Erfolg. Dafür ist sie viel zu ernsthaft der Echtheit ihrer Poesie verbunden. Ihre persönliche Herzlichkeit ist voller Ernst. Da gibt es eine tiefe Überzeugung davon, dass Lyrik bewegen kann. Da ist das Wiedererkennen, das sich in der positiven Resonanz auf ihre Gedichtbände spiegelt. „Je mehr Menschen das lesen, umso schöner für mein Herz. Ich schreibe nicht für mich, ich schreibe für die Leser da draußen“, erzählt sie. Und: „Es geht um Liebe. Es ist ganz egal, woher wir kommen. Worüber ich erzähle, versteht jeder. Jeder kann meine Gedichte lesen, und darum geht’s. Dafür kämpfe ich ja auch: Dass endlich begriffen wird, dass wir alle eins sind“.
Bei aller Tiefe und allem Ernst, bei aller Verzweiflung über die politische und menschliche Realität, ist Safiye Cans unerwarteter und selbstironischer Humor eine Erfrischung. Die Begegnung mit diesem Gedichtband mag ein Spiegel für alle Kinder der verlorenen Gesellschaft sein und sie zu einer neuen Perspektive inspirieren. Es ist ein facettenreiches Buch, das sich durch seinen wunderbaren Blick auf das Leben und seine Ehrlichkeit auszeichnet.